Nachbesprechung in der Nürtinger Zeitung

Türk – der Schulgründer, Therapeut
und Philosoph

Andreas Mayer-Brennenstuhl blickte in seinem Vortrag im Forum Türk auf die Anfänge der Nürtinger Kunstschulen zurück

VON JUERGEN LEMPELIUS

NÜRTINGEN. Als schicksalhaft und von Konflikten nicht frei bezeichnete Professor Andreas Mayer-Brennenstuhl seine über viele Jahre anhaltende Begegnung mit Karl Heinz Türk bei der Einleitung zu seinem Vortrag „K. H. Türks Schulgründungen und ihr geistiger Hintergrund“. Zu dieser Veranstaltung waren kürzlich zahlreiche Zuhörer – meist älteren Semesters – der Einladung des Forums Türk in die Nürtinger Galerieräume gefolgt. Ihn erfülle tiefe Dankbarkeit gegenüber seinem Lehrer, so der Redner. Türks Impulse hätten in Nürtingen viel in Bewegung gesetzt; sie seien leider unvollendet geblieben und bedürften der Fortsetzung.

Im Alter von 19 Jahren kam Andreas Mayer-Brennenstuhl 1976 in die Freie Kunstschule an der Laiblinstegstraße; die Schule war gerade gegründet worden und noch im Aufbau begriffen. Die Zeit nach 1968 hatte die Gesellschaft in Bewegung gebracht; die junge Generation suchte nach Antwort auf die Fragen der Zeit. Der seit vielen Jahren in Hardt lebende Bildhauer K. H. Türk, geboren im Jahr 1928 und verankert in der klassischen Moderne, war von der pädagogischen und therapeutischen Aufgabe der Kunst überzeugt und setzte sich öffentlich dafür ein. Eine Rundfunksendung hatte seine Ideen weiten Kreisen bekannt gemacht. So wurden aus den zunächst fünf „Bauaktivisten“ bald zwanzig; hinzu kamen drei Dozenten, die von Anfang an an den Bauarbeiten aktiv beteiligt waren.

„Nicht reden, sondern tun“ lautete damals das Motto „Dozenten und Studenten bauen ihre Schule selbst“, so oder ähnlich lauteten in den folgenden Jahren die Überschriften der Presseveröffentlichungen. Die praktischen Erfahrungen auf der Baustelle prägten die jungen Menschen. „Nicht reden, sondern tun“ lautete das Motto, eine Forderung, die von K. H. Türk vertreten wurde und die ihm den Beinamen „Handwerkerkünstler“ einbrachte. Mayer-Brennenstuhl bestätigte, dass seine eigene Persönlichkeit durch die Gemeinschaft der Bauenden wesentlich gefördert wurde. Mit einer Fotoserie vom Baugeschehen machte er die damalige Gründerzeit lebendig. Nach dem Gebäude Laiblinstegstraße 2 begann man mit dem Ausbau des Äußeren Werkhauses, Metzinger Straße 37, später kamen die Villa Melchior und die Fabrik Melchior hinzu. Innerhalb weniger Jahre wuchsen das Lehrangebot, die Zahl der Studierenden und der Dozenten stark an.

Als wichtiger Zug seiner Studienzeit ist Mayer-Brennenstuhl in Erinnerung geblieben, „ins Leere geworfen“ worden zu sein. Eine im geistigen Bereich immer freier werdende Gesellschaft habe danach verlangt, auch auf künstlerischem Gebiet die freie Entfaltung und das selbständige Arbeiten einzufordern. Als Lehrer habe Türk vielfältige Impulse gegeben, so der Redner, aber der schöpferischen Individualität freien Lauf gelassen und dem Schüler die Verantwortung übertragen. Diese Einstellung habe sich bei seiner späteren Anstellung als Türks Assistent fortgesetzt: Bei einer kritischen Auseinandersetzung über das damalige Lehrkonzept habe Türk ihm nahegelegt, selbst eine Klasse zu leiten, die dann zur Gründung einer neuen Kunstschule in Metzingen führte. Bemerkenswert sei auch, dass K. H. Türk sein umfangreiches theoretisches Wissen auf mündlichem Wege nur in beschränktem Maß weitergegeben habe; als Schriftsteller sei er jedoch sehr produktiv gewesen. Tiefsinnige Dinge habe er oft in humorvoller Weise ausgedrückt.


Die Lehrinhalte im Bereich der Bildhauerei verdeutlichte Mayer-Brennenstuhl in einer Bildserie: Durchdringung verschiedener geometrischer Körper, organische Formen und deren Verwandlung, hergestellt aus den Materialien Holz, Stein, Metall. Später folgten experimentelle Arbeiten und archaische Motive, postmoderne Plastiken in räumlichem Kontext (zum Beispiel Landschaft) oder mit sozialen Bezügen. Als Beispiel eines Objekts nannte er die im Zentrum Nürtingens entstandene Installation von Weidengeflechtkonstruktionen, bei der jeder Bürger zum Mitmachen eingeladen wurde. Als gelungene „soziale Plastik“ erwähnte der Redner die Nürtinger Kinder-Kultur-Werkstatt, die das selbstbestimmte und sozialverantwortliche Handeln von Kindern und Jugendlichen ermöglicht.


Zu den verschiedenen Studienrichtungen der Freien Kunstschule kam im Frühjahr 1981 das Aufbaustudium Kunsttherapie hinzu. Es begann unter der Leitung von Gerhard Dreher in Schopfloch und siedelte im Sommer 1983 in die von Studenten renovierte Villa Melchior nach Nürtingen um. Die weitere Entwicklung dieses Fachgebiets, das sich hinsichtlich der Grundlagen auf die drei Säulen Rudolf Steiner, C. G. Jung und Karlfried Graf Dürckheim stützte, sei eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Persönlichkeiten gewesen, so Mayer-Brennenstuhl: Neben K. H. Türk seien hier insbesondere Professor Ziehfreund, der die wissenschaftliche Richtung vertrat, und Jürgen Thies zu nennen. Für Türk sei es schmerzlich gewesen, dass andere Dozenten seinen auf der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners fußenden Erkenntnissen nicht folgen konnten. Kritisch äußerte sich der Redner zum literarischen Werk von K. H. Türk: Aus Sicht der heutigen Wissenschaft werden die fehlenden Quellenangaben bemängelt; dies gelte auch für Türks Werk „Wir sind immer noch der erste Mensch – Eine Symptomatologie zur Kultur- und Kunstgeschichte der werdenden Menschheit“.

Ausführlich beschäftigte sich Türk mit Rudolf Steiner Im zweiten Teil seines Vortrags skizzierte der Redner die geistesgeschichtlichen Grundlagen und Denkstränge,
die auf das Leben und Werk K. H. Türks maßgebenden Einfluss hatten. Als enger Mitarbeiter seines Lehrers Türk habe er vielfältigen Einblick in dessen Denken und Handeln gehabt. Wie auch aus der zuvor zitierten Kulturgeschichte erkennbar, war Türk zeitlebens auf der Suche nach den Urbildern und den Grundlinien der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit. Es gelte die Welt von der Ganzheit der Idee her zu betrachten und nicht umgekehrt. Türk steht damit in der Tradition des Humanismus mit seinem Glauben an die Möglichkeit der Ausbildung der menschlichen Kräfte. Er bewunderte die Geistesströmung des deutschen Idealismus mit deren Zeugnissen auf den Gebieten der Philosophie, der Dichtung und Literatur. Obwohl ihn der Ausdruck „Idealist“ gekränkt habe, dürfe man ihn sicherlich so bezeichnen, so der Vortragende. Bei Goethe studierte Türk die phänomenologische Betrachtungsweise am Beispiel der Urpflanze, das gemeinsame Prinzip in der Pflanzenwelt. In Schillers Ausführungen zur ästhetischen Erfahrung nahm er die Wirkungen einer harmonischen Umgebung auf die Persönlichkeitsentwicklung wahr; dies gab ihm Hinweise auf die Möglichkeiten der Kunsttherapie, die bis in die gesellschaftlichen Verhältnisse wirken kann. Ausführlich beschäftigte sich Türk mit Rudolf Steiner und lernte dabei, durch meditative Übungen das eigene Denken zu schulen.

Zum Schluss zitierte der Redner aus dem bereits genannten Buch von K. H. Türk: „Und so wie die Entwicklungskrisen im Leben des Einzelnen Erkenntnisprozesse auslösen, so gilt das Gleiche für das Werden der Menschheit, und es ist ja hier schon an anderer Stelle darauf hingewiesen worden, dass wir uns heute in einer solchen Krisenentwicklung – in einer Art Menschheitskrise – befinden und dass – betrachten wir die nähere Zukunft – es darauf ankommen wird, diese Krise zu bestehen und zwar in allen ihren Auswirkungen, weshalb man heute von Krisenherden oder Krisenmanagement spricht. Krisenbewältigung aber erfordert Therapie. So werden wir nach der Zukunft hin vor allem den therapeutischen Aspekt der Kultur entwickeln müssen. Was heißt denn das? Das heißt, wir werden von der eigentlichen Zivilisation mehr und mehr Abstand nehmen müssen, um uns der Kultur (im Sinne von Kultivierung) zuzuwenden, denn Kultur entwickeln heißt immer zugleich auch therapeutisch tätig sein, eine Erfahrung, die wir den alten Kulturen verdanken können. Waren jene alten Kulturen aber zunächst Kollektivkulturen, so beginnt jede Kultivierung in unserer Zeit mit der Persönlichkeitskultur. Das aber heißt: Eine Veränderung der Verhältnisse ist heute nur noch durch das Individuum möglich. Es ist jener Weg zur eigenen Individuation, die eben gleichzeitig Therapie bedeutet, und die nicht nur C. G. Jung, Jan Gebser, Erich Fromm oder R. Steiner postuliert haben, sondern die letztlich die notwendige Aufgabe unserer ganzen Epoche ist. Therapie der Verhältnisse heißt also nicht: Weitermachen wie bisher und abwarten, was kommt, denn was da kommen wird, ist uns schließlich allen schon bewusst geworden, sondern es heißt: Bewusst vollzogene Wandlung des Bisherigen, Angewöhnen anderer Denk- und Lebensinhalte. Hinhören auf andere Meinungen, Toleranz entwickeln, die Welt, ihre Rätsel und Fragen anzunehmen und sich nicht auf dem Gipfel der Erkenntnis wähnen, von dem aus gesehen alles andere nur unbedeutend ist.“