Artikel in der Nürtinger Zeitung vom 13. November 2012, von Heinz Böhler

Sich ergänzende Gegensätze

Oliver Sich zeigt den Menschen als gequälte Kreatur. Foto: heb

Oliver Sich zeigt den Menschen als gequälte Kreatur. Foto: heb

 

„Expressiver Rebell und digitaler Pixelpanscher“ – so lautet der Titel der aktuellen Ausstellung im Forum Ilse und K. H. Türk.

Das erinnert irgendwie an „Butch Cassidy und Sundance Kid“, „Winnetou und Old Shatterhand“ oder ähnliche Namenspaare auf der Suche nach Gerechtigkeit. In diesem Fall ersetzt der Pinsel die Silberbüchse und die Computermaus den Henrystutzen. Was dabei herauskommt, ist seit Sonntag und noch bis zum 16. Dezember in den Galerieräumen des Forums in der Sigmaringer Straße zu besichtigen.

Den Rebellen gibt der Nürtinger Maler Oliver Sich, dessen 27 Exponate eine klare Sprache über seinen gesellschaftskritischen Ansatz sprechen. Der Stuttgarter Lithograph und Computerkünstler Rainer Wagner steuert 17 überwiegend großformatige Arbeiten zu der Ausstellung bei, die durch ihre farbliche Expressionalität und extrem verdichtende Verfremdung der Objekte beeindrucken.

Ziehen sich nun Gegensätze an, oder stimmt eher jenes andere Sprichwort, wonach sich eher Gleich und Gleich gerne gesellen? Zumindest stellte Professor Albrecht Leuteritz diese Frage zu Beginn seiner Einführung in den Raum. Antwort: Sie schließen sich im vorliegenden Fall zumindest nicht gegenseitig aus.

Der Kunsthistoriker sieht bei der Betrachtung der Ausstellung zwar offensichtliche Gegensätze hinsichtlich der Arbeitsweise und der von den Künstlern angewandten Techniken, jedoch mindestens ebenso viele Gemeinsamkeiten, wenn es um stilistische und weltanschauliche, also inhaltliche Kriterien geht.

Rainer Wagner und Oliver Sich trennt eine ganze Generation. Wagners Familie fand nach 1945 und der Flucht aus Breslau in Stuttgart eine neue Heimat, wo er eine Ausbildung als Lithograph machte und sein künstlerisches Interesse in Abendkursen intensivierte. Wagner habe, so Leuteritz, zunächst mit konventionellen Landschaften in Öl begonnen, bis er sich auf eher spielerische Weise mit dem in seiner Firma ohnehin vorhandenen Computer befasste und mit der Zeit zu der ihm heute eigenen Technik fand.



Seine Bilder entstehen heute aus eingescannten Fotografien, die – nunmehr als digitale Datei gespeichert – im Rechner modifiziert und in einem möglicherweise sich über Jahre hinziehenden Prozess wieder zu einem Bild zusammengesetzt werden, in einer speziell ausgerüsteten Druckerei auf das Grundmaterial aufgetragen und vom Künstler so lange nachbearbeitet werden, bis das ihm vorschwebende Ergebnis erzielt ist. 

 

Ganz anders stellen sich sowohl Werdegang als auch die Arbeitsweise von Oliver Sich dar: Als Realschüler im Kunstunterricht nie über eine Vier hinausgekommen, absolvierte der 1969 in Nürtingen Geborene zunächst eine Ausbildung in einem Autohaus, bevor er, wie es Albrecht Leuteritz ausdrückte, sich entschloss, das Leben eines unabhängigen Arbeiters zu führen, der sich mal als Landschaftsgärtner, mal als Trucker verdingte.

Nebenher jedoch hatte er begonnen zu zeichnen und zu malen. Coverillustrationen für Heavy-Metal-CDs waren das erste Sujet, auf das er sich stürzte, bevor er den Menschen für sich als Motiv entdeckte. Den Menschen als gequälte, geängstigte, verwirrte Kreatur.

 

„Wo warst Du, als wir Hilfe brauchten“ – der müde, hoffnungslose Blick, der den Betrachter trifft, hat eigentlich nichts Anklagendes, dennoch zeigt er Wirkung.

Haben wir doch alle noch das den Naziterror charakterisierende Zitat von Martin Niemöller im Ohr: „Als sie kamen, um die Juden zu holen, schwieg ich, weil ich kein Jude war. Als sie kamen, um die Kommunisten zu holen, schwieg ich, weil ich kein Kommunist war. Als sie kamen, um die Gewerkschafter zu holen, schwieg ich, weil ich kein Gewerkschafter war. Dann, als sie kamen, um mich zu holen, gab es keinen mehr, der für mich seine Stimme hätte erheben können.“

Professor Leuteritz verglich Sichs Malweise mit dem neoexpressionistischen Stil der 70er- und 80er-Jahre in Deutschland, der damals Weltgeltung errungen habe. Namen wie Kippenberger, Fetting, Mittendorf wiesen die Richtung. Es lag am Betrachter, solches nachzuvollziehen oder auch nicht.

Mitunter ist es genug, anzuschauen, was einem begegnet, manchmal auch nicht. Oliver Sich scheint sich für Letzteres entschieden zu haben, auch wenn er, wie man am Sonntag erfuhr, schon erleben musste, wie zwei seiner Arbeiten, die nach Landminenexplosionen übrig gebliebene menschliche Torsi mit deformierten Köpfen zeigen, von Angehörigen einer muslimischen Glaubensgemeinschaft in Stuttgart „gesteinigt“ wurden.

„Was guckst Du jetzt, wo es zu spät ist?“, könnte die nächste Frage des müden Opfers auf dem erwähnten Bild sein. Ja, warum guckt man? Vielleicht, um sich vorzunehmen, das nächste Mal nicht zu schweigen. Vielleicht auch nur, weil das in der Ausstellung Sichtbare neben anderem eben auch Kunst ist.

Ausstellungsdauer bis 16. Dezember; Öffnungszeiten: samstags, sonntags und feiertags 14 bis 17 Uhr; Finissage: Sonntag, 16. Dezember, 11.30 Uhr