Bericht in der Nürtinger Zeitung vom 26. September 2012,
von Jürgen Lempelius

Künstlerische Bildung erzieht zur Freiheit

Im Forum Ilse und K. H. Türk sind bis zum 28. Oktober Arbeiten von Studierenden der Freien Kunstschule Stuttgart zu sehen.

Martin R. Handschuh, Rektor der Freien Kunstschule Stuttgart, im Kreis der Studierenden. Foto:le

Martin R. Handschuh, Rektor der Freien Kunstschule Stuttgart, im Kreis der Studierenden. Foto:le

 

In festlichem Rahmen präsentierte das Forum Ilse und K. H. Türk am vergangenen Sonntag seine Herbstausstellung, die bis zum 28. Oktober zu sehen sein wird: Unter dem Motto „Schwarz auf weiß und farbenfroh“ zeigen neun Studierende und Absolventen der Freien Kunstschule Stuttgart ihre Bilder, Skulpturen und Videos in einer Gemeinschaftsschau, die in ihrem künstlerischen Niveau, ihrer Vielfalt und ihrem Umfang alle Vorgängerveranstaltungen übertrifft.

Es gehöre schon zur Tradition im Forum Türk, dass man hier nicht nur eine Kunstausstellung eröffne, sondern ein Fest veranstalte, so die Vereinsvorsitzende Els Junginger bei ihrer Begrüßung: Dazu gehörten neben den Grußworten von Andreas Erwerle, Technischer Beigeordneter der Stadt Nürtingen, auch die Darbietungen des Duos Ellen und Bernd Marquard, das mit Klavier, Trompete und Gesang klassischen Oldtime-Jazz zur Gehör brachte.

Seit Ilse und K. H. Türk in der Gründungsphase der Freien Kunstschule Nürtingen im Jahre 1976 die renommierte Stuttgarter Akademie als Vorbild und Patin betrachtet hatten, bestünde, so Junginger, eine Verbindung zwischen den beiden Instituten. Von Anfang an hatte der Anthroposoph K. H. Türk die Kunst als notwendig für die Entwicklung des freien Menschen betrachtet.

Die Freie Kunstschule Stuttgart wurde 1927 gegründet

Im Zentrum der Vernissage stand der Vortrag des Nürtinger Rechtsanwalts, Musikwissenschaftlers und Kunsthistorikers Martin R. Handschuh, der seit Beginn dieses Jahres der Freien Kunstschule Stuttgart als deren Rektor vorsteht. „Kunst ist eine Tochter der Freiheit“, mit dieser Aussage zitierte der Redner Friedrich Schiller, um gleichzeitig festzustellen, dass die Kunst als solche nicht nur Tochter der Freiheit, sondern dass die künstlerisch-ästhetische Bildung auch Erziehung zur Freiheit ist.

Mit dieser Einleitung führte Handschuh hin zu einer kurzen Darstellung der kunstpädagogischen Ziele der Freien Kunstschule Stuttgart und damit zum geistigen Umfeld, in dem die Ausstellenden ihre Werke erschaffen haben. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die 1927 von Adolf Hölzel und August Ludwig Schmitt im Geiste der Bauhaus-Kunstpädagogik gegründete Akademie heute die älteste freie Kunstschule Deutschlands ist.

In seiner Übersicht über die vielen Exponate musste Handschuh einräumen, dass die farbenprächtigen Werke deutlich ins Auge stechen und dass das Schwarzweiße – auch mengenmäßig betrachtet – dahinter etwas zurücktritt. Nicht so bei der Studentin Janina Beha in ihren Lithografien „Querdenker“ und „Ideen angeln“ mit originellen Bilderfindungen, in denen sie Tiefschürfendes mit Witz präsentiert. Sehenswert sind ihre fünf Videos mit teils surrealem, teils sozialkritischem Charakter.

Fotorealistisch kann man die akribisch gemalten Acrylgemälde „Apfelblüten I–III“ und „Quitte“ nennen, die Jasmine Diez (Diplom in „Freie Malerei“ im Sommersemester 2012) auf die Leinwand gebracht hat. Neben der Naturdarstellung gilt ihr Interesse dem Menschen, wie man an dem Opus mit dem Titel „Rotes Bild“ ersehen kann. Im plastischen Bereich sind die fünf naturalistischen Tonbüsten bemerkenswert, mit denen sie die Dargestellten treffend charakterisiert.


Ihre Hingezogenheit zur russischen Schule und deren realistischer Tradition ist Yana Duga (Studentin im 9. Semester) anzumerken. Melos und Melancholie strahlen ihre Arbeiten aus, wobei diese Wirkung auf ganz unterschiedliche Weise erzielt wird. Die Themen ihrer Bilder: „Straßenmusiker“, „Vom Winde verweht“, „Erinnerungen an meine Oma“.

Das Thema ihrer Abschlussarbeit „Die glückliche Familie“, in der sie sich mit der Familie, deren gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen in Vergangenheit und Gegenwart beschäftigt, regte Sarah Hamm (Diplom Sommersemester 2012) zu den beiden gezeigten Gemälden an: „An einem Sonntagnachmittag“ zeigt aus der Perspektive eines Kindes den bewegt-bewölkten Himmel mit luftig aufsteigenden Gasballons und mit einem bedrohlich kreisenden Schwarm schwarzer Vögel. „Doppelmutter mit Raben“ heißt das zweite Werk; auch hier vier Raben im Wohnzimmer-Interieur, dazu Mütter mit Säuglingen im Arm. Fragen nach Realität und Traum stellen sich dem Betrachter.


Große technische Könnerschaft

Die Bildhauerin Bettina Kohlen (Studentin im neunten Semester) setzt sich mit dem Thema „Die menschliche Figur in Zeit und Raum“ auseinander. Aus Bronze, Stahl, Cannstatter Travertin, Alabaster, Gips und Keramik erschafft sie mit großer technischer Könnerschaft ihre Kunstwerke. Ihre Inspirationsquellen sind so vielfältig wie das Leben. Genauigkeit bei der anatomischen Erfassung der menschlichen Gestalt paart sich bei Bettina Kohen mit dem Mut zur Abstraktion, die als Mittel zur Steigerung des Ausdrucks verstanden werden sollte.

Unverkennbarer Hintergrund der Arbeiten von Isabell Reiling (Diplom Sommersemester 2012) sind die Thesen des Soziologen Herbert Blumer, der menschliches Handeln als Interaktionsprozess mit bestimmten Symbolen beschreibt. In der Serie „Menschenband“ werden die menschlichen Körper durch bunte Bänder dargestellt, wobei die Farbgebung für Lebendigkeit und Leichtigkeit, Hoffnung und Empfindsamkeit steht. Eindrucksvoll auch die expressive, energetisch aufgeladene Vierer-Gruppe „Sportlerpaar“.

Der Studentin Gudrun Schattel (neuntes Semester) liegt das Thema „Verbindung“ am Herzen. Ihre großformatigen Ölgemälde „Verbindung-1“ und „Verbindung-2“ sind von Grundrissen zweier Städte inspiriert: Aus der Vogelperspektive offenbart sich ein für jede Stadt charakteristisches Gewirr von Wegen, Straßen und Plätzen. Die Vorlagen wurden durch die Künstlerin so weit verfremdet, dass die Straßenzüge als solche nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar sind. So entstehen abstrakte Gebilde, die auch als Adern oder Nervenbahnen menschlicher Körper gedeutet werden können. Auch das auf dem Plakat verewigte Tulpenbild wurde von Gudrun Schattel gemalt.

Als hervorragender Porträtist offenbart sich Nicolas Schützinger (Diplom November 2012) in seinem Selbstbildnis. Sein scharfer Blick ins Innere zeigt sich auch in dem Ölbildnis „Säufer“, in dem sich dem Betrachter das tragische Schicksal des Dargestellten erschließt und sein Mitleid erregt.

Der Student Uwe Amberger (siebtes Semester) versenkt sich in seinen großformatigen Gemälden grüblerisch in die Welt des Surrealismus. Ein Beispiel für mehrere: Das Diptychon „Tiefe Stadt“; zwei Leinwände unterschiedlichen Formats bilden in der Einheit ein Stadt ab, die in einer Höhle errichtet worden ist. Von dort führt ein Weg ins Freie einer sich öffnenden Schlucht, von innen nach außen, vom Dunkel zum Licht. In Anlehnung an die Gralserzählung am Ende des Lohengrin stellt sich der Vortragende Martin R. Handschuh die Frage: Offenbart sich hier ein „unerhörtes, nie gesehenes Wunder?“.


Es ist der Ausstellung und den Künstlern zu wünschen, dass das bereits anlässlich der Vernissage erkennbare große Publikumsinteresse auch während der kommenden Wochen anhält. Die Einfallskraft und Ausdrucksstärke dieser neuen Künstlergeneration machen den Besuch der Ausstellung zu einem lohnenden Ereignis.


Öffnungszeiten: bis Samstag, 27. Oktober, jeweils samstags und sonntags sowie am 3. Oktober jeweils von 14 bis 17 Uhr; die Finissage ist für Sonntag, 28. Oktober, 11.30 Uhr, geplant.